Digitalisierung: Was wir von Seneca lernen müssen

Über das Silicon Valley kommt eine antike Denkschule zurück nach Europa: Der Stoizismus schult den Umgang mit Unsicherheiten. Gut für wirre Zeiten.

„Das Leben ist das, wozu unser Denken es macht“, schreibt Mark Aurel, römischer Kaiser und mächtigster Mann seiner Zeit. Immer wieder standen er und sein Reich erdrückenden Herausforderungen gegenüber: Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien. Er aber blieb gleichmütig. Aurel sah in den Hindernissen eine Chance, tugendhaft zu handeln. Stoizismus heißt die philosophische Schule, die Vernunft, Enthaltsamkeit und Unempfindlichkeit gegenüber äußeren Dingen predigt. Mark Aurels „Selbstbetrachtungen“ aus dem Feldlager zählen heute zur Weltliteratur und sollen etwa bei Helmut Schmidt stets griffbereit auf dem Nachttisch gelegen haben.

Für den Star-Podcaster Tim Ferriss ist der Stoizismus ein „ideales Betriebssystem in einer hochstressigen Umgebung“. US-Unternehmer Ryan Holiday sieht in ihm eine praktische Lebenshilfe für mehr Gelassenheit. Sein Buch „Das Hindernis ist der Weg“ verkaufte sich auch in Europa zigtausend Mal. Die Kernbotschaft: Viele Dinge lassen sich nicht verändern. Aber man kann beeinflussen, wie man über sie denkt.

Philosophie für Trial-and-Error

Diese griechische Philosophenschule findet nun ausgerechnet über das Silicon Valley zurück in die alte Welt. Aber sitzen im Tal der Zukunft nicht die Machbarkeitsapologeten, die alles für möglich halten? Für Bestseller-Autor und Finanzmathematiker Nassim Taleb ist das kein Widerspruch: „Ein Stoiker verwandelt Furcht in Klugheit, Schmerz in Veränderung, Fehler in Initiation und Wünsche in Vorhaben“, schreibt er. Folglich passt diese Haltung exzellent zum Trial-and-Error-Prinzip des Digitalzeitalters. Sie unterstützt jene, die furchtlos extreme Ideen und neue Geschäftsmodelle umsetzen möchten.

Taleb sieht im Stoizismus die Basis für „Antifragilität“. So nennt er die Eigenschaft, sich selbst unter Unsicherheit, Variabilität und Stress zu verbessern. Viele Menschen betrachteten die Welt fälschlicherweise als geordnet. Sie unterschätzten die Möglichkeit unvorhersehbarer Ereignisse – Naturkatastrophen, Börsencrashs, Unfälle – mit all ihren negativen, zuweilen aber auch positiven Folgen. Der Stoiker dagegen ist stets auf das Schlimmste vorbereitet. Unerwartetes bringt ihn nicht aus der Ruhe. Er hat Epiktets Regel verinnerlicht: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Beurteilungen über die Dinge.“ Epiktet war ein ehemaliger römischer Sklave. Seine Überlieferungen sind voller zeitloser Weisheiten für ein gelassenes Management und gute Führung: „Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.“ In der Praxis heißt das für ihn: „Versuche Dich um Himmels Willen an kleinen Dingen. Erst dann mache mit größeren weiter.“ Das könnte aus einem Handbuch für agiles Projektmanagement stammen. Kleine Schritte bei großen Zielen sind besser als ein starrer Plan.

Der beste Rat im Digitalzeitalter

Und wenn das eigene Vorhaben scheitert, die eigene Leistung nicht genügt? Seneca ist der Kämpfer unter den Stoikern. Für den Römer war jede Niederlage ein Ansporn. Nur, wer die Kehrseiten des Lebens kennengelernt habe, könne Großes vollbringen: „Ein Athlet, der nie braun und blau geschlagen wurde, wird keinen großen Kampfgeist zum Wettkampf mitbringen.“ Weitermachen ist das Motto. Als Inspiration dafür lieferte er die Urversion von Steve Jobs legendärem Stanford-Zitat: „Sieh jeden einzelnen Tag so an, als wäre er ein einzelnes Leben“. Für Unternehmer, Manager und Entscheider kann es im Digitalzeitalter keinen besseren Rat geben. Wer weiß schon, was morgen ist.

Tiefer einsteigen:

Epiktet: Handbüchlein der Moral.
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen.
Nassim Taleb: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen.
Ryan Holiday: Das Hindernis ist der Weg.
Seneca: Briefe an Lucilius.
Tim Ferriss: The Tao of Seneca. Practical Letters from a Stoic Master.

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