So rücken Sie näher an Ihre Kunden

Kundenzentriert. Google liefert tatsächlich über 100.000 Nennungen für diesen Begriff, der eine Selbstverständlichkeit beschreibt. An wem sollte sich ein Unternehmen denn bitte ausrichten, wenn nicht an seinen Kunden? Die inflationäre Verwendung des Wortes ist eine Diagnose. Offenbar spüren viele Manager, dass sich in ihrer Firma zu viel um die eigenen Produkte und Prozesse dreht. Eine Dienstleistungsmentalität muss her.

Die Techniker regieren in Deutschlands Industrie, und das ist zunächst einmal gut so: Es hat schon seinen Grund, warum hiesige Maschinen und Fahrzeuge weltweit so geschätzt werden. Sie sind eben bis ins Detail ausgetüftelt. Der Glaube an die übermächtige Perfektion sitzt in mancher Firmen-DNA allerdings zu tief. So versicherte mir der Einkäufer eines großen deutschen Automobilherstellers kürzlich bei einer Cocktailparty: Skandale hin oder her — seine Marke sei auf Dauer unschlagbar, weil sie die besten Lackieranlagen (!) hätte. Ich war gleichermaßen amüsiert wie fassungslos. Die Stärke „Detailverliebtheit“ hat blind und arrogant gemacht. Wer nur an Kleinigkeiten herumdoktert, der verliert den Blick fürs Ganze.

In einem digitalen Umfeld kommt Geschwindigkeit vor Perfektion. Die kurze Time to Market wird wichtiger, da Produkte heute ohnehin niemals „fertig“ sind. Dafür bringen Updates neue Zusatzfunktionen, Patches beheben Fehler. Das zeigt unter anderem der Autobauer Tesla, der seine Elektrofahrzeuge per Fernwartung mit weiteren Features versieht und dem Kunden notfalls zusätzliche Batteriereichweite freigibt, wenn er vor einem Hurrikan flüchten muss. Da ist dann auch der letzte Qualitätsunterschied im Lack herzlich egal.

Service als Kern der digitalen Transformation

Dieses Kunden- und Serviceverständnis ist der Kern der digitalen Transformation. Zudem erkennen auch produzierende Unternehmen, dass Beratung, Installation und Wartung tatsächlich Geld einbringen und eben keine Gratiszugabe sein müssen. In den Weihnachtsansprachen hören Belegschaften daher zunehmend, „dass Kundenzentrierung unser A und O ist“ oder der „Service bei uns ab jetzt noch größer geschrieben wird“. Leider versickern derlei Appelle schneller als Regen in der Namib. Kundennähe heißt nämlich vor allem: Dienstleistung. Aber was ist das eigentlich?

Dienstleistung ist erstens: eine Haltung. Diese müssen Inhaber und Management zunächst einmal vorleben. Demnach ist Führung kein Verdienst, sondern vor allem Dienst am Mitarbeiter. Schöne Phrase. Für die Praxis heißt das: Entscheider müssen ihr Team in die Lage versetzen, dass es situativ und jederzeit im Sinne des Kunden handeln kann. Aus der Geschichte sind Unternehmenshierarchien aus militärischen Kommandostrukturen entlehnt. Der Mensch ist hier bloß ausführendes Organ. Dass dieser Top-Down-Stil in einer demokratisierten und digitalisierten Arbeitsumgebung nicht mehr trägt, ist spätestens klar, seit die Generation Y zwischen ihren Sabbaticals im Büro die Sinnfrage stellt. Indem Inhaber und Management Dienstleistung vorleben statt sie zu verordnen, erschaffen sie überhaupt erst den Raum für kundenorientiertes Handeln.

Dienstleistung ist zweitens: eine Strategie. Aus der Haltung lassen sich Ziele, Strukturen und Steuerungssysteme ableiten. Wieviel Umsatz wollen wir mit Services machen? Wie fließen Wünsche unserer Kunden in neue Produkte ein (sollen sie das überhaupt)? Wie muss unser Unternehmen dafür organisiert sein? Sind unsere Hierarchien eigentlich für den Kunden oder für den Mitarbeiter da? Welche Informationen brauchen unsere Mitarbeiter, um jederzeit im Sinne des Kunden agieren zu können (und sollen sie das überhaupt)? Wie verhalten sich Mitarbeiter bei Problemen und woran messen wir überhaupt Leistungen und Erfolg? Die beispielhaften Fragen kratzen nur an der Oberfläche, machen aber schon deutlich: die Aufgabe ist komplex. Sonntagsreden, Appelle an „Kundenzentrierung“ und Tools sind bis hierher wenig hilfreich. Klar ist, dass die klassischen Erfolgsfaktoren wie Liefertreue oder Produktverfügbarkeit in fertigenden Unternehmen gegenüber der Kundennähe nach hinten rücken werden.

Dienstleistung ist drittens: Kooperation. Wird eine Dienstleistungsmentalität vorgelebt und sind Strukturen und Hierarchien neu ausgerichtet, können endlich zielgerichtete Aktivitäten folgen. Entscheidend ist, Wissen aus Projekten und Programmen zu sammeln und bereitzustellen. Die Organisation muss aus jedem Kundenkontakt lernen, sie muss zu einer empathischen Organisation werden. Das gilt beispielsweise für das Marketing, das kontinuierlich Daten über den Kunden sammelt, um Kampagnen immer wieder zu optimieren und Kunden bessere Angebote unterbreiten zu können. Das gilt ebenso für die Produktentwicklung oder das Projektgeschäft. Kunden sollten früher in den Innovationsprozess eingebunden werden. Agile Managementmethoden aus der Softwareentwicklung helfen. Dabei verlaufen Projekte in einer Schleife aus Lernen und Umsetzen. Fachkenntnisse lassen sich kombinieren, zugleich wird die Herrschaft der Spezialisten eingehegt. Es entstehen Teams, die sich selbst steuern und schneller im Sinne des Kunden handeln können.

Nun laufen die Dinge nicht immer so, wie wir sie uns vorstellen. Schon gar nicht in Zeiten wie diesen. Das Gute ist: Wir können immer daran arbeiten. Sollten dies aber möglichst systematisch, sonst ist alles für die Katz.

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